Kommt die Stechuhr zurück?

Eine Mitte September bekannt gewordene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts hat die Wellen in Foren und Medien hochschlagen lassen: Arbeitgeber sind demnach dazu verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten zu erfassen. Kommt jetzt die Stechuhr zurück, auch in landwirtschaftliche Betriebe?
Veröffentlicht am 19.10.2022
Kommt die Stechuhr zurück?

Wie so oft gilt zunächst: Nicht die Pferde scheu machen. In der Auseinandersetzung zwischen einem Unternehmen aus dem Pflegebereich und dessen Betriebsrat über Mitbestimmungsrechte bei technischen Überwachungseinrichtungen hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass Arbeitgeber nach dem Arbeitsschutzgesetz verpflichtet sind, „ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.“ So der erste Satz der Pressemitteilung des Gerichts, die schriftliche Urteilsbegründung liegt noch nicht vor. Deshalb ist die Handlungsempfehlung daraus derzeit noch einfach: Solange nicht klar ist, wie die Begründung lautet, welche Angaben eventuell zur konkreten Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung gemacht werden und ob diese Einzelfallentscheidung für alle Betriebe in Deutschland bindend ist, sollten keine übereilten Entscheidungen getroffen werden. Häufig in Deutschland ist die Vertrauensarbeitszeit, bei der Beschäftigte selbst darauf achten, weder Unter- noch Überstunden zu machen. Häufig wird das gerade in kleineren Betrieben kombiniert mit einer einfachen, oft papierbasierten Zeiterfassung. So auch bei Matthias Mehl, der in Frankfurt den Ackerbaubetrieb Mehl KG Saaten betreibt. Er baut Zuckerrüben an, betreibt Getreidesaatgutvermehrung und bietet Lohnarbeiten an. „Meine zwei Mitarbeiter und die Auszubildende schreiben ihre Stunden händisch auf und ich vertraue ihnen. Meinetwegen können wir das künftig auch digital machen“, sagt Mehl.

Das Thema Arbeitszeiterfassung ist dem modischen Wandel unterworfen: Bei Einführung elektronischer Systeme ab den 1970er Jahren waren es zunächst oft Belegschaften, die sich dagegen wehrten, weil sie fürchteten, für jeden Gang zur Toilette „ausstechen“ zu müssen. 20 Jahre später forderten dann oft gerade Beschäftigte eine korrekte Arbeitszeiterfassung, um Überstunden zu dokumentieren und abzurechnen, während Arbeitgeber sich dagegen wehrten, um Mehrarbeit nicht oder nicht vollständig entlohnen zu müssen. Heute herrscht Mangel an Fachkräften und teils auch an Hilfskräften – das führt dazu, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen durchsetzungsstärker werden. Wer sich bei der Arbeitszeit ungerecht behandelt fühlt, ist oft schneller weg als die Ernte eingefahren. Der Europäische Gerichtshof hat bereits 2019 entscheiden, dass die Mitgliedsstaaten Unternehmen dazu verpflichten müssen, eine Zeiterfassung zu gewährleisten. Das jetzige BAG-Urteil kann auch als Konsequenz daraus verstanden werden, zudem beruft es sich auf das bestehende Arbeitsschutzgesetz. Außerdem verlangt auch das Mindestlohngesetz eine Dokumentation der Arbeitszeit.

Auch unabhängig eventuell nun kommender Regelungen ist eine Arbeitszeiterfassung also durchaus sinnvoll, auch für Arbeitgeber. Im landwirtschaftlichen Betrieb ist das aber nicht ganz einfach, weil Arbeitsorte wechseln, weit auseinanderliegen und schlecht kontrollierbar sind. Oft fahren Beschäftigte etwa von zuhause direkt dorthin, wo sie am Tag zuvor mit der Arbeit aufgehört haben. Ein Umweg über den Betrieb für die Arbeitszeiterfassung wäre ineffektiv. Wenn Beschäftigte den ganzen Tag lang mit dem Schlepper auf den Flächen unterwegs sind, lässt sich auch nicht wirklich kontrollieren, wie lange sie dabei Pause machen. „Wenn meine Leute acht Stunden mit dem Schlepper hoch und runter pflügen, kann ich nicht genau kontrollieren, ob sie auch mal 20 Minuten Pause machen“, sagt Klaus Münchhoff, der zusammen mit seinem Sohn, vier Mitarbeitern und einer Angestellten im Büro rund 1000 Hektar in Derenburg im Landkreis Harz bewirtschaftet, überwiegend mit Getreide. Die Arbeitszeit wird, zusammen mit Einsatzort, benutzter Maschine samt Anbaugerät, händisch auf Zetteln notiert. „Die Telematik im Schlepper könnte mir auf die Sekunde genau sagen, wie oft er gestanden oder gefahren ist, aber ich schaue mir diese Daten überhaupt nicht an“, sagt Münchhoff. Das sei „auch eine Vertrauensfrage.“ Münchhoff möchte sein System gerne beibehalten, weil es funktioniert.

Die Auswertung betrieblicher Daten aus Telematik oder GPS-Erfassung wäre wohl tatsächlich ein Verstoß gegen den Datenschutz. Die Kombination aus mobiler Erfassung per App – es gibt Anbieter, die auf die Landwirtschaft zugeschnittene Lösungen anbieten – samt direkter Anbindung an die Software zur Lohnabrechnung scheint auf den ersten Blick die einfachste Lösung. Sie scheitert möglicherweise aber an der mangelhaften technischen Ausstattung oder der Bereitschaft von Beschäftigten, die sich eine App auf dem Telefon installieren müssten. Sie dazu zu verpflichten kann ebenfalls Probleme machen. Aber es gibt auch Betriebe, die ohne Zettelwirtschaft die Arbeitszeit erfassen: „Wir erfassen die Stunden bei vielen Mitarbeitern elektronisch. Das funktioniert gut. Die Mitarbeiter mit Vertrauensarbeitszeit müssen nun auch wieder erfasst werden. Das erhöht den Verwaltungsaufwand ein wenig. Grundsätzlich passt das Arbeitszeitgesetz nicht zu den Tätigkeiten in der Landwirtschaft“, sagt Christian Meyer von der Landservice Westeregeln GbR. Zusammen mit seinem Kollegen Wolfgang Remus bauen sie hauptsächlich Getreide und Kartoffeln in Börde-Hakel im Salzlandkreis zwischen Harz und Magdeburg an.

Fazit: Schon diese wenigen Überlegungen zeigen, dass die Lage kompliziert ist und vor der Investition in ein System unbedingt die genaue rechtliche Ausgestaltung der Pflicht abgewartet werden sollte.

 

Linktipps zum Thema:

https://www.lwk-niedersachsen.de/lwk/news/32845_Arbeitszeit_in_der_Landwirtschaft_%E2%80%93_wissen_was_Sache_ist

https://www.landwirtschaftskammer.de/landwirtschaft/arbeitnehmer/aktuelles/zeiterfassung.htm